Manege frei!|Kirchenblatt

2022-09-17 01:34:22 By : Mr. Loki lee

Das Publikum sieht nur die großartige Show, aber hinter den Auftritten im Zirkus stehen Menschen mit Sorgen und Nöten. Für sie ist Sascha Ellinghaus da. Der Priester leitet die Zirkus- und Schaustellerseelsorge der katholischen Kirche in Deutschland. Eine besondere Freundschaft verbindet ihn mit der Familie des Circus Probst. Ein Besuch im Zelt.

Großartige Show: Stephanie Probst präsentiert in der Manege fünf Schimmelhengste in der Freiheitsdressur. Foto: Kerstin Ostendorf

„Frisches, leckeres Popcorn! Frisches, leckeres Popcorn!“ Zirkusdirektor Reinhard Probst steht im schwarzen Anzug hinter der Popcornmaschine und füllt die noch warme Knabberei in Papiertüten. Die ersten Zuschauer betreten das Vorzelt des Circus Probst, der an diesem Sommertag in der niedersächsischen Stadt Vechta gastiert. Die Nachmittagsshow geht in wenigen Minuten los. Zeit für Snacks: Bratwurst? Eis? Oder doch lieber Chips und Gummibärchen? Probst schaut kurz zu Sascha Ellinghaus. Der Priester hat im bunten Café-Wagen alles im Griff. „Zwei Cola? Und ein Lutscher? Das macht dann 7,80 Euro“, sagt Ellinghaus und reicht die Getränke über den Tresen. Den Besuchern fällt das Collar, der typische Priesterkragen, den Ellinghaus trägt, gar nicht auf. „Die denken wahrscheinlich, ich gehöre hier zur Zirkus-Mannschaft“, sagt er.

Seit 2014 ist Ellinghaus Leiter der Zirkus- und Schaustellerseelsorge der katholischen Kirche in Deutschland. Seine Gemeinde sind die rund 5000 Zirkusleute und die 38 000 Schausteller. Mit ihnen ist Ellinghaus unterwegs: Er reist zu den Jahrmärkten, ist auf Frühlings- und Oktoberfesten, er besucht die Schausteller auf den Weihnachtsmärkten und ist zu Gast bei Zirkussen. „Von Kiel bis Berchtes- gaden bin ich eigentlich ständig unterwegs“, sagt Ellinghaus. Er segnet neue Verkaufsbuden und Fahrgeschäfte und spendet Sakramente: Eine Taufe in der Manege oder eine Erstkommunion auf dem Autoscooter – für Ellinghaus ist das mittlerweile völlig normal.

Beim Circus Probst ist er besonders gern zu Gast. Mit der Chefin Brigitte Probst verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. Regelmäßig telefonieren sie, schreiben auf Whatsapp oder er besucht die Familie an einem ihrer Spielorte. Kennengelernt haben die beiden sich Anfang 2000. Als Kaplan in Werl organisierte Ellinghaus damals einen Ausflug zum Weihnachtszirkus nach Gelsenkirchen, der vom Circus Probst präsentiert wird.  „Das war ein Dankeschön für die Ministranten und Sternsinger in meiner Gemeinde“, erinnert sich Ellinghaus. An der Kasse wollte er den Eintrittspreis für die große Gruppe drücken und traf auf Brigitte Probst. „Wir haben uns gleich auf Anhieb gut verstanden, nett geplaudert – und den Rabatt habe ich auch bekommen“, sagt Ellinghaus und lacht.  

Als der Leiter der Zirkus- und Schaustellerseelsorge für Westfalen einige Jahre später regionale Mitarbeiter suchte, brachte Brigitte Probst Ellinghaus ins Spiel. „Ich habe mir gleich gedacht, dass er das kann“, sagt sie. „Der Sascha hat so eine ruhige, gelassene Art und er kann gut zuhören.“ Zirkus und Kirmes habe er schon immer gerne besucht, sagt er. „Ich erinnere mich, dass meine Oma mich zum Ponyreiten auf die Kirmes mitgenommen hat. Ich glaube, sonst hätte ich nie die Chance gehabt, als Kind einem Pferd so nahe zu kommen.“ 

Hilft gerne: Sascha Ellinghaus im Café-Wagen des Circus Probst. Foto: Kerstin Ostendorf

Ellinghaus ist ein herzlicher und unkomplizierter Typ. Er geht auf die Menschen zu, scherzt und lacht. Ohne zu zögern, übernimmt er an diesem Tag den Snack-Verkauf im Café-Wagen. Er hilft, Eintrittskarten zu sortieren, oder wirft einen Blick auf die Deutsch-Hausaufgaben von Brigitte Probsts Enkelin Celina. „Als ich gestern angereist bin, hatte ich das ganze Auto voller Popcorn-Mais“, sagt er. „Der war ausgegangen, dann habe ich halt eingekauft.“ Für ihn ist diese Hilfe selbstverständlich: „Das ist doch auch eine Form von Seelsorge. Dafür bin ich da.“

Den Schritt aus der Pfarrei in die Schausteller- und Zirkusseelsorge hat er nie bereut. Zwar ist er viel unterwegs, fährt im Jahr mehrere Zehntausend Kilometer. „Aber über die Jahre hat sich zu vielen Schaustellern und Zirkusfamilien ein so vertrauensvolles Verhältnis entwickelt, dass ich meine Arbeit nicht mehr missen möchte.“ 

Ein Ortspfarrer könne oft nicht so eng mit seiner Gemeinde verbunden sein wie er, sagt Ellinghaus. Zwar seien die Treffen im Gegensatz zur traditionellen Gemeinde seltener, dafür aber umso intensiver. Die Menschen vertrauen sich ihm an: Sie erzählen von den finanziellen Sorgen, wenn die Vorstellungen schlecht besucht sind oder nur wenige Menschen auf die Jahrmärkte kommen. Sie berichten von Krankheiten, vom Streit in der Familie, vom Tod von Freunden. „Ich biete keine Seelsorge-Sprechstunde an. Das passiert einfach automatisch“, sagt Ellinghaus. „Ich bin zu Gast, ich setze mich zu den Leuten, wir plaudern ein wenig und dann kommen auch schwierige Themen auf den Tisch.“

Brigitte Probst sucht immer wieder das Gespräch mit Ellinghaus. Das vergangene Jahr war für ihre Familie besonders schwierig: Völlig überraschend ist ihre älteste Tochter Sonja mit 37 Jahren infolge von Komplikationen nach einer Operation gestorben. „Von jetzt auf gleich war sie nicht mehr da“, sagt Probst. Tränen laufen ihr über die Wange. Sie tupft sie mit dem Taschentuch ab, atmet einmal tief durch. Vor ihr stehen noch die Teller mit den Resten des Mittagessens: Pellkartoffeln mit Kräuterquark für die ganze Familie. Daneben ein Foto von Sonja mit einem elektrischen Teelicht.

Probst erzählt, dass ihre Tochter als 15-Jährige vom Vertikalseil neun Meter in die Tiefe auf den Manegenboden gestürzt sei und schwere Kopfverletzungen erlitten habe. „Wochenlang lag sie damals im Koma, über 20 Mal wurde sie operiert. Wir haben gehofft und gebetet, dass sie überlebt“, sagt sie. „Und jetzt muss sie an den Folgen einer Routine-OP sterben?“ Man spürt ihre Verzweiflung, die Fassungslosigkeit und die Wut. Probst sagt, in den vergangenen Monaten habe sie mit Gott gehadert: „Das Warum lässt dich nicht los.“ Immer wieder hat sie auch mit Ellinghaus darüber gesprochen. Sie haben gemeinsam gebetet, er hat ihr zugehört. „Er kann mir natürlich auch keine Antwort geben. Aber das Zuhören hilft. Wir müssen halt irgendwie versuchen weiterzuleben“, sagt Probst und zuckt mit den Schultern.

Sie steht auf und räumt das Mittagsgeschirr vom Tisch. Trotz allem bleibe der Glaube eine wichtige Stütze, sagt sie. Regelmäßig besucht sie Kirchen und entzündet Kerzen in Erinnerung an Sonja. „Mein Glaube bedeutet mir unglaublich viel. Er ist mein Haltegriff. Ohne ihn könnte ich nicht sein“, sagt Probst. Die Krisen in ihrem Leben hätte sie ohne den Glauben nicht durchstehen können: als ihr Mann schwerkrank wurde oder als sie selbst die Diagnose Hautkrebs erhielt. „Sascha hat mir immer sehr geholfen. Mit ihm kann ich darüber sprechen. Er ist mein Anker und meine Verbindung zu Gott“, sagt Probst. Ellinghaus lächelt, berührt kurz ihren Arm – und mahnt zur Eile. „Los jetzt! Du musst die Kasse aufmachen, sonst kriegst du gleich wieder Ärger mit deinem Mann“, sagt er und lacht.

Intensive Beziehung zu Familie Probst

Gottesdienst in der Manege: 2021 feiert Sascha Ellinghaus im Circus Probst die Ostermesse. Wenige Wochen später starb Sonja Probst an  den Folgen einer Routine-OP.  Foto: privat/Zirkus- und Schaustellerseelsorge

Eine so intensive Beziehung wie zu Brigitte Probst und ihrer Familie kann der Seelsorger nicht mit jeder Zirkus- und Schaustellerfamilie unterhalten. „Das ist schon etwas sehr Besonderes. Da ist eine Freundschaft gewachsen, die über meine Arbeit als Seelsorger hinausreicht“, sagt er, als er über das Gelände in Vechta schlendert. Die Zebras, Ziegen und Lamas grasen auf der Wiese, die Trampeltiere und Dromedare dösen in ihren Gehegen. Aus den Zelten mit den Tierboxen der Araber und Kaltblüter ist ein leises Schnauben zu hören.

Hinter dem Zirkuszelt sammelt sich eine Artistengruppe. Die neun Männer und zwei Frauen wärmen sich auf, hüpfen auf der Stelle und dehnen ihre Muskeln. Die Gruppe, die zum mongolischen Staatszirkus gehört, reist in dieser Saison mit dem Circus Probst von Stadt zu Stadt und zeigt ihre Turn- und Akrobatikkünste auf dem Schleuderbrett und mit dem Springseil. Ellinghaus grüßt kurz. 

„Hallo Herr Pfarrer! Lange nicht gesehen“, ruft ihm Rudi Brukson zu. Der Mann mit den lockigen Haaren läuft an ihm vorbei auf dem Weg ins Zirkuszelt. „Wir müssen nachher nochmal reden. Es geht um die Firmung“, sagt der Italiener. Seine ganze Familie ist in diesem Jahr beim Circus Probst engagiert: Als Clown begeistert er gemeinsam mit seiner Frau Irina das Publikum. Seine Tochter Elena tritt mit einer Luftakrobatik-Nummer auf, sein Sohn Rico jongliert mit Bällen und Tennisschlägern. „Ja, machen wir“, ruft Ellinghaus ihm hinterher. 

„Die Menschen beim Zirkus sind sehr traditionell“, sagt er. Ihnen sei es wichtig, die Sakramente zu bekommen. Anfragen zu Taufen, Erstkommunionfeiern, Firmungen und Hochzeiten bekommt Ellinghaus häufig. Für die italienische Familie hat er bereits versucht, Vorbereitungsmaterial zu finden. „Das ist manchmal nicht so einfach, gutes Material in der passenden Sprache zu finden“, sagt er. Die Jugendlichen sollen sich die Seiten durchlesen und die Aufgaben bearbeiten. „Und dann werden wir dazu telefonieren, darüber sprechen, was die Firmung bedeutet, was sie verstanden und wo sie noch Fragen haben“, sagt Ellinghaus. So laufe die Seelsorge in der Zirkus- und Schaustellerseelsorge: vieles nebenbei, am Telefon oder per E-Mail. „Von außen mag das unpersönlich erscheinen. Aber für die Leute hier ist das völlig normal. Sie sind ja ständig unterwegs, da bleibt man halt digital in Kontakt“, sagt er. 

Die Feste plant er nach dem Rhythmus der Spieltermine oder Jahrmärkte. Mit Familie Brukson vereinbart er später, dass die Firmung der beiden Kinder voraussichtlich im Spätsommer stattfindet, wenn der Zirkus in Schleswig-Holstein unterwegs ist. Für die Taufen, Erstkommunionfeiern und Hochzeiten nutzt er häufig eine örtliche Kirche. Oder er feiert den Gottesdienst direkt in der Manege oder auf der Kirmes – sofern der eng getaktete Auf- und Abbau und die Shows das zulassen. 

Mit 400 Kilogramm Gepäck unterwegs

In seinem Kastenwagen hat er alles dabei, was er dafür braucht: Tonanlage, Technik, Sakral-Keyboard, Tisch, Altarkreuz und Kelche. Ordentlich sortiert liegen in Schubkästen Altartücher mit oder ohne Spitze, Talare und Stolen. Ellinghaus reist mit gut 400 Kilogramm Gepäck durch Deutschland. „Die Leute wünschen sich eine festliche Messe. Das soll nicht einfach ein Zeltgottesdienst sein“, sagt er. Der Zirkus oder der Jahrmarkt seien Alltag für die Schausteller, die Feier des Gottesdienstes solle dann etwas ganz Besonderes sein. 

Ellinghaus’ Terminkalender ist voll. Auf ihn warten die Düsseldorfer Rheinkirmes, das Schützenfest in Hannover, eine Erstkommunionfeier im Sauerland und eine Taufe in Nordhessen. „Ich bin gerne unterwegs“, sagt er. Das Leben als Zirkus- oder Schaustellerfamilie sei nicht immer einfach. Aber allein durch seine Anwesenheit auf dem Zirkusplatz oder auf dem Festgelände erinnere er die Menschen daran, dass sie nicht alleine sind. Ellinghaus sagt: „Gott ist da und mit uns auf der Reise!“

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